Stadt Aarau (AG)

Hingehen zu den älteren Menschen im Quartier

«Die Anliegen sind so vielfältig wie die älteren Menschen selber»

Die Stadt Aarau unterstützt die ältere Bevölkerung neu mit einer mobilen Anlaufstelle. Vorerst werden in zwei Quartieren Erfahrungen gesammelt. Die mobile Altersberaterin Kathrin Fachinger ist jeden Donnerstag neben dem Telli-Einkaufszentrum anzutreffen.

Wer vom Bahnhof Aarau mit dem Bus ins Telli-Quartier fährt, steht direkt vor dem gleichnamigen Einkaufszentrum. Drinnen dröhnt Baulärm, das Telli-Zentrum wird gerade renoviert. Trotzdem ist es für einen gewöhnlichen Wintervormittag ziemlich belebt. Vorbei an Grossverteilern, Kleider- und Schuhläden, Bäckerei, Restaurant und Apotheke gelangt die Besucherin zum hinteren Eingang. Dort eröffnet sich der Blick auf die Telli-Siedlung mit ihren vier markanten Wohnzeilen. Die Aarauer Grosssiedlung wurde ab den 1970er-Jahren erbaut. Sie umfasst rund 1200 Wohnungen, in denen etwa 2500 Personen leben. Im ganzen Telli-Quartier leben über 4000 Menschen.

Zu ihnen gehört die 72-jährige Liliane Gasser. «Es ist ein buntes Quartier», sagt sie. Sie wohne «schon ewig» hier und schätze die Möglichkeit für kleine Spaziergänge an der nahen Aare, den kurzen Weg von der Siedlung zu den Geschäften. «In zwei Minuten bin ich da», sagt die am Rollator gehende Frau. Heute ist sie aber nicht nur zum Einkaufen ins Zentrum gekommen. Sie schaut bei der Mobilen Altersarbeit Aarau (MoA) vorbei, dem neuartigen Angebot der Stadt. Mit dem Pilotprojekt nimmt Aarau am Programm Socius 2 der Age-Stiftung teil. Die MoA steht der älteren Bevölkerung für Fragen rund ums Alter zur Verfügung. Sie nimmt Anliegen auf und vermittelt Hilfe im Alltag. Zudem will sie das gemeinschaftliche Miteinander im Quartier fördern.

Angebot vor der Haustür

Seit Juni 2021 ist MoA-Mitarbeiterin Kathrin Fachinger jeden Donnerstagvormittag beim hinteren Eingang des Einkaufszentrums anzutreffen. Auch Telli-Bewohnerin Liliane Gasser unterstützte sie schon konkret. Sie verhalf der Rentnerin zu einer Putzhilfe, indem sie einen Kontakt zu Pro Senectute herstellte. Die Entlastung im Haushalt kann Liliane Gasser gut gebrauchen. Es sei eine Erleichterung, anerkennt sie. Seither findet sie sich jede Woche bei der MoA ein, «um Hallo zu sagen». Das Zusammentreffen ist herzlich, man kennt sich inzwischen. Liliane Gasser sagt, sie begrüsse die neue Anlaufstelle praktisch vor ihrer Haustür und sei froh, davon erfahren zu haben. Nach einem kurzen Schwatz verabschiedet sie sich wieder.

Der Plakatständer der Mobilen Altersarbeit ist gut sichtbar im Freien platziert. Daneben steht ein Tisch mit breit gefächerter Auslage: Broschüren und Flyer zu lokalen und regionalen Unterstützungsangeboten für Ältere, vom Entlastungsdienst über Nachbarschaftshilfe bis zu Alzheimer Aargau. Ein paar Meter dahinter befindet sich Kathrin Fachingers temporärer Arbeitsplatz. Jeweils für zwei Stunden richtet sie sich im Cheminée-Raum des Gemeinschaftszentrums Telli ein. Das Gemeinschaftszentrum grenzt unmittelbar ans Einkaufszentrum. Der rege frequentierte Standort sei für die Ziele der MoA ideal, stellt Kathrin Fachinger fest: «Hier sind viele Menschen aus dem Quartier unterwegs.»

Wissen, dass jemand da wäre

Manche kämen bewusst mit einem Anliegen vorbei, erzählt sie. An diesem Vormittag ist es eher so, dass Leute am Stand stehen bleiben, in Broschüren blättern, eine mitnehmen, oder auch den MoA-Flyer. Kathrin Fachinger lässt sie alles in Ruhe sichten. Hat sie den Eindruck, jemand wäre offen für ein Gespräch, begibt sie sich zum Stand. «Ich dränge mich nicht auf», sagt sie. So oder so sei eine Sensibilisierung erreicht: «Die Menschen wissen dann, dass ich da bin, sollten sie später einmal Beratung brauchen.» Ein wichtiger Effekt, der den Älteren eine gewisse Sicherheit verschaffe und in Rückmeldungen oft genannt werde. Kathrin Fachinger ist auch per Telefon oder Mail erreichbar. Zudem ging sie schon auf Hausbesuch.

Sie ist mit einem 40-Prozent-Pensum bei der Stadt Aarau angestellt. Die 46-Jährige arbeitete ursprünglich als diplomierte Pflegefachfrau im Spital. Später absolvierte sie ein Nachdiplomstudium in Gesundheitsförderung und Prävention sowie einen Fachkurs in aufsuchender Sozialer Arbeit. Zu den Prinzipien der aufsuchenden Arbeit gehöre die «Lebensweltorientierung», erläutert sie. Das heisst: Die Unterstützung richtet sich nach den konkreten Bedürfnissen der Menschen. Und diese werden vor Ort in der direkten Begegnung erhoben. «Meine Aufgabe ist es, zu den Menschen hinzugehen und auch auf sie zuzugehen», sagt die Fachfrau. Sie schaue hin, höre zu, trete und bleibe in Kontakt, baue Vertrauen auf.

Verfügbare Hilfe sichtbarer machen

Die aufsuchende Methode ist in der Jugendarbeit seit längerem bekannt, bei der älteren Bevölkerung betritt die Stadt Aarau damit Neuland. Es ist eine Reaktion auf die wachsende Zahl älterer Menschen (siehe Zweittext weiter unten). Ein zentrales Ziel der Mobilen Altersarbeit Aarau ist es, die bestehenden Unterstützungsangebote für die ältere Bevölkerung sichtbarer zu machen und den Kontakt zu ihnen herzustellen. Die lokale Nähe von Information und Beratung soll den Zugang erleichtern. Dies auch mit Blick auf Menschen, die nicht so gut zu Fuss sind. Oder einen Migrationshintergrund haben, wie viele im Telli.

Am häufigsten erhielt Kathrin Fachinger bisher Anfragen, die sich den Themen Wohnen, Pflege und Betreuung von Angehörigen sowie Einsamkeit zuordnen lassen. Das Spektrum sei aber breit, stellt sie fest. Es reiche von finanziellen Abklärungen und Fragen zum Vorsorgeauftrag bis zu Kontaktpersonen für den Notrufknopf und der Bereitschaft, freiwillig tätig zu sein. Auch zur Smartphone-Bedienung wurde Kathrin Fachinger schon konsultiert. Die älteste Ratsuchende war 97, doch nicht allein die Älteren kommen. Einmal war eine Quartierbewohnerin über die Situation einer älteren Freundin besorgt und fragte die MoA, wie man am besten helfen könnte. Die Geschichten seien oft berührend, sagt Kathrin Fachinger: «Und die Anliegen sind so individuell und vielfältig wie die älteren Menschen selber.»

Die Brückenbauerin

Kathrin Fachinger versteht sich als Brückenbauerin zwischen den älteren Menschen und den Angeboten von Organisationen und Dienstleistern in und um Aarau. Je nach Thema vermittelt sie den Erstkontakt zu diesen und übergibt das Anliegen. Andere bezieht sie für eine längere Beratung und Begleitung ein. Eine Zusammenarbeit kann am konkreten Fall erfolgen oder durch regelmässigen Austausch. Einige sind Projektpartner, darunter Pro Senectute, die Spitex und der Quartierverein Telli. Auch mit städtischen Stellen ist die MoA vernetzt, von der Quartierentwicklung über die Sozialen Dienste bis zu den zwei Pflegeheimen.

Das Gemeinschaftszentrum Telli, in dem die MoA Gastrecht geniesst, gehört zu den engeren Projektpartnern. Es wird als Stiftung von der Einwohner- und Ortsbürgergemeinde sowie den reformierten und katholischen Kirchgemeinden getragen. Das seit 1974 bestehende Gemeinschaftszentrum führt selber Angebote, die auch älteren Quartierbewohnerinnen und -bewohnern zugutekommen. So etwa einen Mahlzeitendienst, Nachbarschaftshilfe und das «Abau-Stübli», ein Café mit Anlässen wie zum Beispiel Gehirnjogging. Bei all dem wirken viele Freiwillige mit. Zentrumsleiter Andreas Feller und MoA-Mitarbeiterin Kathrin Fachinger sprechen sich auch an diesem Donnerstagvormittag kurz ab. «Die Mobile Altersarbeit entspricht als Anlaufstelle einem Bedürfnis», bestätigt Feller. Durch seine Funktion hat er Einblick in die Situation der älteren Quartierbevölkerung.

Support aus türkischer Community

«Wir ergänzen uns gegenseitig», fügt der Zentrumsleiter an, bevor er weiter muss. Das Gemeinschaftszentrum biete Dienstleistungen, Treffpunkte und die Möglichkeit, sich freiwillig zu engagieren; die Mobile Altersarbeit könne Beratung und Begleitung gewährleisten. Beide Partner verweisen regelmässig aufeinander. Und die MoA profitiert von der fast 50-jährigen Gemeinwesen-Tradition vor Ort. «Tellianer» nennen sich die Bewohnerinnen und Bewohner nicht ohne Stolz. Es gibt eine Quartierzeitung, die «Telli-Post».

Eine Tellianerin ist seit sechs Jahren auch Seda Isildar. Die 43-Jährige kam eines Tages an den Stand der Mobilen Altersarbeit, daraus entwickelte sich eine Zusammenarbeit. Seda Isildar unterstützt heute die MoA, wenn es darum geht, die türkischsprachige Telli-Bevölkerung zu erreichen. «Ich erzähle den Nachbarn von der Beratungsstelle und verteile Flyer», berichtet sie am Tisch im Cheminée-Zimmer. Über sechzig MoA-Flyer habe sie schon verteilt, auch in der Moschee warb sie dafür. Türkischstämmigen Bewohnerinnen und Bewohnern sei oft noch weniger bekannt, dass es so viele Unterstützungsangebote fürs Alter gebe, stellt Seda Isildar fest. Viele kennten höchstens die Spitex.

«Warum braucht es das?»

Das habe mit sprachlichen Hürden zu tun, aber auch mit kulturellen Unterschieden, weiss die MoA-Supporterin: «In unserer Kultur helfen immer die Kinder den Eltern, wenn sie Hilfe brauchen.» Wenn Seda Isildar Landsleuten vom Angebot der Stadt für die Älteren erzählt, hört sie oft die Frage: «Warum braucht es das?» Sie antwortet jeweils, es sei doch für alle gut, wenn nicht die Kinder mit eigenen Berufen und Familien alles übernehmen müssten. Manche stimmten dann zu und nähmen den Flyer entgegen, andere zögerten vielleicht noch. Der Kulturwandel, ohne die eigenen Werte aufzugeben, brauche Zeit, sagt die Telli-Bewohnerin. Sie will dranbleiben und versichert, sie habe «noch viele Ideen in meinem Kopf.»

Seda Isildar ist in einem kleinen Pensum beim Programm Alter und Migration des Hilfswerks HEKS Aargau angestellt, einem weiteren Projektpartner der Mobilen Altersarbeit der Stadt Aarau. Für die MA ist Seda Isildar eine sogenannte Schlüsselperson. «Sie ist für mich sehr wertvoll, gerade auch mit ihrer Offenheit und ihrem kulturellen Verständnis», sagt die mobile Altersberaterin Kathrin Fachinger. Auch dank Seda Isildars Vermittlung und Begleitung konnte sie schon Telli-Bewohnende mit Migrationshintergrund beraten.

Fruchtende Kontakte

Inzwischen geht es gegen den Mittag zu. Kathrin Fachinger klappt den MoA-Ständer zusammen, räumt die Broschüren in eine grosse Kiste, verstaut den Tisch im Abstellraum. An diesem Vormittag konnte sie – dem nasskalten Wetter zum Trotz – durch ihre Anwesenheit wieder ein paar Passantinnen und Passanten auf die Anlauf- und Beratungsstelle aufmerksam machen. Sichtlich feinfühlig, mit Übersicht und spürbarem Engagement. Die MoA-Mitarbeiterin agiert beim Aarauer Pilotprojekt im Zentrum des Geschehens. Zuweilen empfindet sie als Herausforderung, mit dem neuen Angebot den Platz in den bestehenden Strukturen des Gesundheits- und Sozialwesens zu finden. Zugleich sei es «schön zu sehen, wenn die Kontaktaufnahme mit älteren Menschen fruchtet und zu Lösungen führt.» Von der Pflege herkommend, gefällt Kathrin Fachinger die Haltung des Kümmerns, die sich in der Mobilen Altersarbeit ausdrücke. Mit dem Älterwerden umzugehen, sei eine gesellschaftliche Aufgabe. Dafür brauche es alle Generationen, so die dreifache Mutter. Ihre Zielgruppe spricht sie jedenfalls nicht dauernd nur aufs Alter an: «Für mich sind es in erster Linie Menschen.»

Länger zuhause wohnen

Anstatt dass die älteren Menschen zu einer Anlaufstelle hingehen müssen, kommt diese bei ihnen vorbei: Das ist das Prinzip der Mobilen Altersarbeit Aarau MoA, die derzeit in den Quartieren Telli und Gönhard als Pilotprojekt umgesetzt wird. «Wir erhoffen uns dadurch eine erhöhte Erreichbarkeit der älteren Quartierbevölkerung», sagt MoA-Projektleiterin Cécile Neuenschwander, Koordinatorin des Fachbereichs Alter bei der Stadtverwaltung. Nutzten mehr ältere Menschen die vorhandenen Unterstützungsangebote, habe dies auch eine präventive Wirkung. Die Älteren könnten länger zuhause wohnen.

Das selbstbestimmte Altern ist als Grundsatz im Aarauer Altersleitbild festgehalten. Aarau hat rund 22'000 Einwohnerinnen und Einwohner. Bis ins Jahr 2030 wird der Anteil der über 80-Jährigen gemäss Berechnungen um über dreissig Prozent steigen. Die Stadt hat die Mobile Altersarbeit durch ein Schreiben an die über 60-Jährigen in den beiden Quartieren bekannt gemacht. Sie führt zudem wiederkehrende Informations- und Themenanlässe durch. Die Zwischenbilanz nach eineinhalb Jahren fällt grundsätzlich positiv aus. «Die Mobile Altersarbeit ist gut angelaufen», stellt die Projektleiterin fest.

Organisationen ins Boot holen

Besonders am Standort Telli entspricht die Nachfrage laut der Projektleiterin den Erwartungen und übertreffe sie sogar. Aus der Bevölkerung und von Projektpartnern erfolgten zustimmende Rückmeldungen. Anspruchsvoller gestaltet sich die Ausgangslage im Gönhard, einem Einfamilienhaus-Quartier ohne zentralen öffentlichen Ort. Die MoA-Mitarbeiterin ist jetzt zeitweise im Bullingerhaus präsent, einem Gebäude der reformierten Kirche.

Ein aufsuchendes Altersangebot könne nur funktionieren, «wenn die involvierten Akteure hinter dem Projekt stehen, dessen Nutzen erkennen und sich einbringen können», unterstreicht Cécile Neuenschwander. Es lohne sich deshalb, genügend Zeit zu investieren, um verschiedene Partner ins Boot zu holen. Wichtig sei zudem, die ältere Bevölkerung ausreichend über die neue Anlaufstelle zu informieren. Und es brauche Mitarbeitende, die gut auf Menschen zugehen könnten und sehr flexibel seien. Das Pilotprojekt läuft bis Ende 2023, eine Verlängerung ist geplant. Voraussichtlich 2024 entscheidet die Stadtregierung, ob die mobile Altersarbeit beibehalten und auf die ganze Stadt erweitert wird.

Text: Susanne Wenger