Stadt Luzern (LU)

Beim gemeinsamen Essen Kontakte knüpfen

«Wir leben von menschlichem Kontakt»

Über 30 Restaurants und Mittagstische beteiligen sich an einem neuen Projekt in Luzern, das älteren Menschen Begegnungen ermöglichen und Einsamkeit entgegenwirken will. Erste Erfahrungen zeigen: Damit das Angebot genutzt wird, muss es stärker gestaltet werden.

Suppentöpfe im Quartierzentrum, zubereitet jeden Donnerstag von Leuten aus der Nachbarschaft. Mittagstische in Kirchgemeinden, öffentliche Restaurants von Alterszentren. Aber auch: das Café in der Innenstadt, die Pizzeria in Seenähe, das Quartierrestaurant. Alle diese gastronomischen Angebote sind in einer Broschüre aufgeführt, die die Abteilung Alter und Gesundheit der Stadt Luzern im Frühling 2023 erstmals herausgegeben und inzwischen aktualisiert hat. «Wir starteten mit 25 teilnehmenden Angeboten, fast ein Jahr später sind es 32», stellt Abteilungsleiter Paolo Hendry fest. Die Liste solle weiter wachsen.

Der Mix aus gemeinnützigen, sozial orientierten und privatwirtschaftlichen Gastrobetrieben steht unter dem gemeinsamen, von der Stadt initiierten Label «En Guete mitenand! ässe. trinke. zämesii». Die Betriebe haben sich bereiterklärt, bei einem Pilotprojekt mitzumachen. Dieses soll es älteren Menschen erleichtern, unter Leute zu gehen und in Gemeinschaft zu essen. Luzern will besonders auch allein lebende Ältere ansprechen. Mehr als vierzig Prozent der rund 8600 über 75-Jährigen in der Leuchtenstadt – mit ihren insgesamt fast 85'000 Einwohnerinnen und Einwohnern – leben in einem Einpersonenhaushalt.

Ein Puzzleteil mehr

Allein zu leben bedeutet nicht automatisch Einsamkeit, betont Paolo Hendry. Doch das Älterwerden birgt je nach Lebenssituation einige Risikofaktoren für unfreiwilliges Alleinsein. Das berufliche Netzwerk entfällt, gesundheitliche Beschwerden treten auf, die Mobilität nimmt ab, der Ehemann oder die beste Freundin stirbt. Im Dokumentarfilm «Einsamkeit hat viele Gesichter» erzählen sieben ältere Menschen ihre Geschichten. Jede dritte Person über 65 in der Schweiz fühlt sich manchmal oder oft einsam, wie eine Gesundheitsbefragung des Bundesamts für Statistik ergab. Soziale Isolation ist mit Scham verbunden und macht erwiesenermassen krank. Die Lebenserwartung verkürzt sich, Blutdruck und Demenzrisiko steigen.

Luzern mit seiner fortschrittlichen Alterspolitik hat das Thema seit einiger Zeit auf dem Radar. «Partnerorganisationen wie die Spitex, die zu den Menschen nach Hause gehen, bestätigen uns, dass dies nötig ist», sagt Paolo Hendry. Die Stadt, die durch Gutscheine für Betreuungsleistungen das selbstbestimmte Wohnen zuhause unterstützt, versucht Begegnungen mit diversen Angeboten zu fördern und arbeitet dabei mit verschiedenen Organisationen zusammen. Es gibt die Quartiertreffpunkte des Sorge-Netzwerks Vicino Luzern, Stadtspaziergänge, Qi Gong im Freien. Die Mahlzeiten bilden ein weiteres Puzzleteil. «Je vielfältiger die Auswahl an Begegnungsmöglichkeiten, desto mehr Leute sprechen wir an», hofft Hendry.

Hemmschwellen überwinden

Aus dem gleichen Grund haben die Verantwortlichen nicht nur bestehende Mittagstische und andere sozial orientierte Essensangebote in das Projekt aufgenommen, sondern auch Restaurants und Cafés. «Das sind neutrale Orte», erklärt der beauftragte Projektleiter Arndt Schafter. Nicht alle Älteren möchten sich zum Essen oder für einen Kaffee etwa in ein kirchliches Umfeld begeben. Mitmachende Lokale zeichnen sich durch Altersfreundlichkeit aus. Das heisst beispielsweise, dass sie kleine Portionen anbieten und gut erreichbar sind. Die beteiligten Betriebe erhalten von der Stadt Tischsteller mit dem «En-Guete-mitenand!»-Logo. So sollen eintretende Personen rasch erkennen, wo sie sich dazusetzen können.

Der pandemiebedingt verzögerte Start des Projekts war vielversprechend. Die Broschüren fanden reissenden Absatz, bereits ist die dritte Auflage in Arbeit. In den ersten beiden Auflagen wurden insgesamt 4000 Exemplare gedruckt, für die dritte Auflage sind 3000 Exemplare vorgesehen. Das Interesse scheint also da. Doch während die bewährten Mittagstische so gut besucht waren wie zuvor, funktionierte das Vorhaben mit den gekennzeichneten Tischen in Restaurants nicht. «Diese trafen auf keine sichtbare Frequenz bei der Kernzielgruppe», stellt Projektleiter Schafter fest. Sich im Restaurant zu Unbekannten zu gesellen, entspreche halt doch eher nicht der Schweizer Kultur.

Zuhause wohnen, in Verbindung bleiben

In Rücksprache mit der Echogruppe des Projekts, in der Restaurationsbetriebe sowie Organisationen und Institutionen rund ums Thema Alter vertreten sind, versucht die Stadt jetzt, zusätzliche Anreize zu setzen. Im Frühling 2024 starten in zwei Lokalen thematische Stammtische zu Sport und Kultur, bei denen Freiwillige die Gäste in Empfang nehmen und das Gespräch ein wenig moderieren. Die Stadt arbeitet für dieses Vorhaben mit der Genossenschaft Zeitgut Luzern zusammen, einer Organisation für Nachbarschaftshilfe.

Ebenfalls beteiligt an der Entwicklung des Projekts ist das Forum Luzern60plus. Die Organisation vertritt die ältere Bevölkerung in Altersfragen gegenüber den Stadtbehörden. Forumsmitglied Hanspeter Furrer begrüsst die Ziele von «En Guete mitenand!». Im Alter habe man die Tendenz, sich zurückzuziehen, weiss der 84-Jährige: «Doch wir leben von menschlichem Kontakt, er bedeutet Lebensqualität.» Es gehe darum, möglichst lange zuhause zu wohnen und zugleich in Verbindung mit anderen zu bleiben. Die gebündelten Angebote gemeinschaftlichen Essens müssten noch bekannter gemacht werden, sagt der Forumsvertreter. Das Projekt brauche noch etwas Anlaufzeit.

«Komm doch auch!»

Menschen im fortgeschrittenen Alter, die sich zurückziehen, sollten zudem «gezielt abgeholt» werden, rät Hanspeter Furrer. Das bedeute unter anderem, sie direkt anzusprechen und zu sagen: «Komm doch auch!» So gelingt es laut dem Forumsvertreter am ehesten, die nötige Eigeninitiative bei den Angesprochenen herbeizuführen. Furrer jedenfalls hat das Gastro-«Büechli» immer bei sich, um persönlich für das Angebot zu werben. Und er weiss selber, wie gut ein Mittagstisch tut. Mit zehn bis zwölf Leuten trifft sich der frühere SBB-Betriebsökonom regelmässig zum Essen im Restaurant Sowieso, einem Betrieb, der integrative Arbeitsplätze anbietet: «Wir fühlen uns sehr wohl dort und unterstützen erst noch den guten Zweck.»

Viel Erfahrung mit der Organisation gemeinschaftlichen Essens hat Wanda Ferrer, Mitarbeiterin der katholischen Pfarrei St. Josef im Luzerner Maihof-Quartier. Jeden Dienstag findet im Kirchensaal «MaiHof» ein offener Mittagstisch statt. Freiwillige kochen ein ausgewogenes Menü für zehn Franken. Der Mittagstisch, den es schon seit 30 Jahren gibt, ist generationengemischt. «Wir haben jeweils 35 bis 40 Personen zu Gast, von Müttern oder Vätern mit Kleinkindern über Oberstufenschülerinnen und -schüler bis zu über 80-jährigen Damen», sagt die Organisatorin.

Kurze Wege und Hilfe vor Ort

Die Pfarrei macht beim städtischen Gastroprojekt mit, auch wenn sie bisher kaum einen Effekt in Form zusätzlicher älterer Mittagstisch-Gäste feststellt. «Wir finden es gut, einmal systematisch darüber nachzudenken, wie mehr ältere Menschen dazu gebracht werden können, in Gemeinschaft zu essen», sagt Wanda Ferrer. Die Hemmschwelle, allein ins Restaurant zu gehen und sich an einen markierten Tisch zu setzen, sei offensichtlich hoch. Mit den Erkenntnissen aus der ersten Projektphase kann nun laut der Pfarrei-Mitarbeiterin im Dialog der Gastroanbieter und Organisationen geschaut werden, was es zusätzlich braucht.

Nach «MaiHof»-Erfahrung empfehlen sich quartierbezogene Angebote. Denn dann sind die Verhältnisse vertraut und die Wege kurz. «So ist es auch für unsere 90-jährige Mittagstisch-Besucherin mit Rollator machbar», sagt Wanda Ferrer. Zudem wird den Hochaltrigen vor Ort geholfen. Das Essen wird ihnen vom Buffet an den Tisch gebracht. «Eine gewisse Begleitung kann helfen, die Hemmschwelle zu überwinden», hält die Mittagstisch-Zuständige fest. Die Pfarrei ist derzeit auch mit einem nahegelegenen Alterszentrum im Gespräch. Die Idee ist, dass Heimbewohnerinnen und -bewohner auch einmal einen auswärtigen Mittagstisch besuchen, begleitet von Aktivierungsfachpersonen oder Freiwilligen.

Positive Wirkung offensichtlich

Wanda Ferrer beobachtet immer wieder die positive Wirkung des gemeinsamen Essens: «Jung und Alt finden einen guten Draht zueinander. Das ist schön zu sehen.» Durch den Gang an den Mittagstisch bleiben die älteren Menschen sichtlich in Bewegung. Und manche kommen so richtig auf den Geschmack des Zusammenseins, wie die Organisatorin erzählt: Eine Gruppe bleibt jeweils nach dem Mittagessen im Haus und hängt noch einen Jass an. Auch der Luzerner Gastronomin Carin Truniger gefällt die Idee, Treffpunkte für ältere Menschen in Gaststätten zu schaffen. «Wir sagten sofort Ja, als die Stadt uns anfragte», so die Betreiberin von «Melissa’s Kitchen» in der Luzerner Innenstadt.

Das Restaurant und Café ist eines von derzeit sieben privatwirtschaftlichen Lokalen, die bei «E Guete mitenand» dabei sind. Ältere Menschen seien in ihrem Lokal immer willkommen gewesen, sagt Carin Truniger. «Melissa’s Kitchen» bietet neben Kaffee und Kuchen tägliche Mittagsmenüs an, auch in kleinen Portionen. Diese anzubieten, sei «wirklich keine Sache», unterstreicht die Betreiberin. In ihrem Lokal haben zudem grössere Gruppen von bis zu 15 Personen problemlos Platz – perfekt eigentlich für die Zwecke des städtischen Projekts.

Willkommenskultur im Café

Doch das Projektziel, vermehrt ältere Menschen an einen Tisch zu bringen, sei bisher nicht erreicht worden, stellt die Gastronomin unverblümt fest. «Die Stadt muss dranbleiben und mehr tun, aber ganz unkompliziert», findet sie. Es brauche «leidenschaftliche Leute» vor Ort an den Begegnungstischen, die dem Projekt ein Gesicht geben und das Ganze ein wenig zusammenhalten. Und warum nicht Buchtausch- oder Strickrunden organisieren? Carin Truniger ist offen für soziale Projekte. Sie stellt ihr Restaurant auch regelmässig für das gesellige «Café TrotzDem» von Alzheimer Luzern und für das «Café Med» zur Verfügung, bei dem pensionierte Ärztinnen und Ärzte Menschen ehrenamtlich beraten.

«Einsamkeit im Alter ist etwas sehr Trauriges», sagt die aus Südafrika stammende Gastronomin. Sie hat den Eindruck, in der Schweiz gehen alte Menschen oft vergessen. «Dabei haben sie ein langes Leben gelebt und viel aufgebaut», unterstreicht sie. In ihrem Familienbetrieb gibt sie bewusst mit Gastfreundlichkeit und Willkommenskultur Gegensteuer. «Ein Gruss, ein Lachen, etwas wohltuende Aufmerksamkeit – und der Tag ist gerettet.» Das Lokal beherbergt seit Jahren einen Stammtisch mit mehrheitlich über 80-jährigen Frauen. Darunter sind laut Carin Truniger einige Pionierinnen in ihren Berufen, «tolle, starke Frauen».

Gastrobranche schulen

Die Stadt will gemäss Abteilungsleiter Paolo Hendry dranbleiben an «En Guete mitenand!», auch nach Abschluss des Socius-Projekts. Das Budget 2024 sieht finanzielle Mittel dafür vor. Neben den erwähnten zusätzlichen Anreizen und Erleichterungen für ältere Menschen, am gemeinschaftlichen Essen teilzunehmen, sind weitere Überlegungen im Gang. So könnten Gesundheitsfachleute die Gastrobranche im Umgang mit Menschen mit Demenz schulen. Und Betriebe, die sich als altersfreundlich verstehen, könnten dies mit einer noch zu kreierenden Etikette schon bei der Eingangstüre kenntlich machen.

Denn: «Ältere Menschen suchen sich die Restaurants aus, in denen sie sich willkommen fühlen», sagt Projektleiter Arndt Schafter. Mit dem demografischen Wandel werde die ältere Kundschaft für die Gastrobetriebe auch ökonomisch zunehmend interessant. Bei allen Bestrebungen, soziale Kontakte im Alter zu fördern, kann und will die Stadt allerdings nicht erheben, wie viele ältere Menschen dank dem neuen Projekt gemeinschaftlich essen gehen. Abteilungsleiter Paolo Hendry: «Wir geben Anregungen und machen die bestehenden Angebote sichtbar.» Doch es bleibe eine individuelle Entscheidung, das Angebot zu nutzen oder nicht.

Text: Susanne Wenger