Region Oberaargau-Ost (BE)

Verein Choreo strebt Sorgekultur in der Region an

Kümmern und helfen: die «Seniorebrügg» machts vor

In der Region Oberaargau Ost im Kanton Bern fördern Gemeinden, Institutionen und Private mit dem Verein «Choreo» die Sorgekultur. Dabei können sie auch auf die «Seniorebrügg» Langenthal zählen – ein bewährtes Netzwerk unter Älteren, die sich gegenseitig unterstützen.

Ältere helfen Älteren: das ist die Idee hinter der «Seniorebrügg» Langenthal und Umgebung. Die 2007 gegründete Selbsthilfeorganisation ist eine Erfolgsgeschichte. Rund 650 Mitglieder machen inzwischen mit – die «Seniorebrügg» ist einer der grössten Vereine in Langenthal. Fast 2900 Stunden Freiwilligenarbeit leisteten die Helferinnen und Helfer im Jahr 2021. «Viele sagen sich nach der Pensionierung: ich möchte etwas Sinnvolles machen», weiss Irmgard Bayard. Die 70-jährige Langenthalerin leitet bei der «Seniorebrügg» den Auftragsdienst. Dieser umfasst Mithilfe im Garten, im Haushalt, beim Einkaufen oder administrativen Angelegenheiten. Auch Computer- und Smartphone-Support ist erhältlich, Begleitung und Fahrten zu Arztbesuchen oder an Anlässe sowie Besuche und Gespräche.

Am gefragtesten seien Gartenarbeiten und Tätigkeiten ums Haus, sagt Irmgard Bayard, vom Rasenmähen bis zum Wischen. Ältere aus Langenthal und Umgebung, die Unterstützung benötigen, können sich an drei Vormittagen pro Woche telefonisch beim Verein melden. Dieser ist auch per Mail erreichbar. Genutzt werden die Dienstleistungen vor allem von Menschen in ihren Achtzigern. Auch jüngere Ältere greifen zeitweise auf sie zurück, etwa nach einem Spitalaufenthalt. Gerade für Alleinstehende könne die «Seniorebrügg» eine Hilfe sein, stellt die Koordinatorin fest. Hauptsächlich werden zuhause lebende Ältere unterstützt, doch auch Menschen im Pflegeheim haben schon von Begleitungen profitiert.

Ältester Helfer ist fast 90

Die derzeit siebzig Helferinnen und Helfer sind zwischen 60 und gegen 90 Jahre alt. In der Vermittlung der Dienstleistungen engagieren sich momentan acht Frauen ehrenamtlich. «Einmal im Monat ist Teamsitzung», erzählt Irmgard Bayard, «danach gehen wir zusammen etwas essen.» Die Helferinnen und Helfer erhalten pro Stunde acht bis zwölf Franken Spesenentschädigung, bezahlt von jenen, die die Unterstützung in Anspruch nehmen. Man wolle keine Konkurrenz zu professionellen Angeboten sein, unterstreicht Irmgard Bayard. Die «Seniorebrügg» verstehe sich als Ergänzung, oft während einer begrenzten Zeit. Alle drei Monate liefern die Helfenden einen Rapport an den Verein ab, der ein Reporting führt.

Neben dem Auftragsdienst unter Älteren sind gemeinsame Unternehmungen das zweite Standbein der «Seniorebrügg». Hierfür ist die 67-jährige Franziska Ryf aus Thunstetten verantwortlich, gemeinsam mit dem Aktivitätenteam. Sie sagt: «Wir führen etwa 30 Anlässe pro Jahr durch.» Ob Fahrradtouren, Wanderungen, Spaziergänge, Firmenbesichtigungen, Exkursionen oder Vorträge: die Aktivitäten werden rege besucht. Daneben gibt es feste Gruppen, von kochenden Männern – mit Warteliste – über den Lesezirkel bis zur wöchentlichen Pétanque-Runde. Die «Senioren-Chügeler», wie sie von der Lokalzeitung bezeichnet wurden, gehören in Langenthal zum Stadtbild. Das Zusammensein tut Körper, Geist und Seele gut. Geschätzt werde die Unabhängigkeit, sagt Franziska Ryf: «Vielen gefällt es, dass die Anlässe unter uns Älteren organisiert werden, nicht von einer Organisation.»

Verein Choreo breit gefächert

Als 2019 der Verein Choreo gegründet wurde, war die «Seniorebrügg» von Anfang an dabei. Der am Programm Socius 2 der Age-Stiftung teilnehmende Choreo-Verein hat sich zum Ziel gesetzt, in der Region Oberaargau Ost mehr sorgende Gemeinschaften aufzubauen. Den etwas abstrakten Begriff der sorgenden Gemeinschaft – auf Englisch: «Caring Community» – haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler geprägt. Sie verstehen darunter eine Gesellschaft, deren Mitglieder sich umeinander kümmern. Sorge-Netzwerke gelten als zukunftsträchtiges Modell, um grosse Entwicklungen wie die alternde Gesellschaft und die zunehmende Vereinzelung zu bewältigen. Älteren Menschen und Menschen mit Behinderung soll ermöglicht werden, möglichst selbständig zuhause zu leben.

Beteiligt sind freiwillig engagierte Bürgerinnen und Bürger, professionelle Organisationen, die sich öffnen und zusammenarbeiten, sowie die Politik, die Projekte anstösst und koordinierend wirkt. Die inzwischen 26 Mitglieder des Vereins Choreo widerspiegeln dieses Zusammenspiel. Die vier Trägergemeinden sind die Stadt Langenthal sowie die Agglomerationsgemeinden Lotzwil, Melchnau und Thunstetten-Bützberg. Von den Leistungserbringern wirken die regionale Spitex und zwei Alterszentren mit. Auch Institutionen wie die Pro Senectute, die Kinder- und Jugendfachstelle Tokjo und die Integrationsfachstelle Interunido gehören dem Verein an. Den zivilgesellschaftlichen Bereich vertreten neben der «Seniorebrügg» der Verein «myPeer» von Menschen mit Behinderung und einzelne Privatpersonen.

Zielgruppen erweitert

Die «Seniorebrügg» wirkt im Choreo-Vorstand mit. Sie sei ein positives Beispiel einer sorgenden Gemeinschaft, anerkennt Thomas Eggler, Vorsteher des Sozialamts der Stadt Langenthal und Präsident des Vereins Choreo: «Ihr Angebot ist wertvoll für die Zielgruppe der älteren Menschen.» Eggler erinnert daran, dass der Gedanke der sorgenden Gemeinschaft aus dem Altersleitbild von 2017 stamme, das zwölf Gemeinden gemeinsam erarbeitet haben. Choreo erweitert aber laut dem Vereinspräsidenten die Wirkungskreise. Das gesellschaftliche Kümmern soll Menschen jeden Alters zugutekommen, die es benötigen, und besonders auch Menschen mit Behinderung oder Krankheit sowie der Migrationsbevölkerung. «Wir bedenken immer alle Aspekte mit und fördern eine generationenübergreifende Sichtweise», hält die angehende soziokulturelle Animatorin Beatrice Meyer fest.

Sie leitet die Choreo-Koordinationsstelle im Auftrag des Vereins, während eine weitere Kollegin die unterstützten Projekte begleitet; beide sind von der Pro Senectute. Als Beispiel nennt Gemeinwesenarbeiterin Meyer den Tag des Lichts, den Choreo jeweils im Dezember in Langenthal durchführt. Der Tag soll auf die Sicherheit und Sichtbarkeit von Kindern im Strassenverkehr bei Dunkelheit aufmerksam machen: «Im Vorfeld stricken Seniorinnen leuchtende Stirnbänder für die Kinder.» Auch am Anlass selber werden freiwillig engagierte Ältere dabei sein. Ebenfalls generationenübergreifend ist das Gesellschaftsbüro «iPunkt!», das Choreo gemeinsam mit zwei Organisationen aus dem Kinder- und Jugendbereich eröffnet hat. Es ist als Anlaufstelle für die Bevölkerung gedacht.

Der Tipp: «Möglichst unkompliziert»


Choreo setzt nicht selber gemeinschaftliche Projekte um, wie die Verantwortlichen betonen. Vielmehr unterstützt der Verein Initiativen aus der Gesellschaft fachlich und finanziell. Mit Anfragen wird die Koordinationsstelle nicht gerade überhäuft. Bisher begleitete sie rund zehn Projekt. So wurden 60 Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine in Melchnau untergebracht. Im Melchnauer Wohnblock-Quartier Gjuch half Choreo auch mit, einen Quartierraum für die Bevölkerung zu errichten. Dank Zusammenarbeit im erweiterten Netzwerk entstand ein Ratgeber, um Selbstvernachlässigung bei betreuten Personen früh genug zu erkennen. Zudem unterstützt Choreo die lokale Gruppe «Hand-i-capiert», die Treffen für Menschen mit und ohne Beeinträchtigung organisiert.

Alle geförderten oder lancierten Angebote dienen dem Choreo-Ziel, «solidarisches und kooperatives Handeln» zu fördern, wie es in den Unterlagen heisst. Von heute auf morgen ist das allerdings nicht zu erreichen (siehe auch Zweittext weiter unten). Wie gelingt eine Sorgekultur? Mit der «Seniorebrügg» Langenthal hat der Verein ein Mitglied in seinen Reihen, das bereits 15-jährige Erfahrung mitbringt. Irmgard Bayard und Franziska Ryf von der «Seniorebrügg» sind sich einig: Am wichtigsten ist es, das Ganze unkompliziert zu halten. Die älteren Menschen könnten bei der Brücke anrufen und dann die Unterstützung rasch und ohne Papierkram in Anspruch nehmen. Was auch gut ankomme: eine Mitgliedschaft im Verein verpflichte zu nichts. Man könne an gesellligen Veranstaltungen teilnehmen und sich erst später als Helferin oder Helfer einbringen.

Das Potenzial der Älteren

A propos Helfen: Irmgard Bayard nimmt grosses Potenzial bei Rentnerinnen und Rentnern wahr, sich gesellschaftlich zu engagieren. Sie selber, die immer noch teilweise als Journalistin tätig ist, und Franziska Ryf, die im kaufmännischen Bereich arbeitete, leben das persönlich vor. Bestens vernetzt und mehrfach ehrenamtlich tätig, tragen sie den Gedanken der sorgenden Gemeinschaft aktiv nach aussen. «Treffe ich jemanden beim Einkaufen und erfahre von der Pensionierung, greife ich zu», erzählt Irmgard Bayard lachend. Sie sage dann jeweils: «Ich wüsste dir etwas» – und informiere über die «Seniorebrügg».

Deren Hauptzielgruppe ist die ältere Bevölkerung, doch sie ist auch offen für Begegnungen unter Generationen. Bereits mehrmals gingen «Seniorebrügg»-Mitglieder auf Anfrage in Schulklassen jassen, zwecks Förderung des Kopfrechnens. Zudem stellte der Senioren-Verein Outdoor-Fitness-Geräte auf dem Areal des Spitals Langenthal auf. Während der Corona-Pandemie waren diese prompt bei allen Altersgruppen der Renner. Möglich machte die Aktion ein Legat, das die «Seniorebrügg» erhalten hatte. «Dadurch können wir auch neue Projekte anstossen», sagt Irmgard Bayard. Ganz im Sinne des Vereins Choreo.

«Choreo ist nicht so leicht fassbar wie ein Fussballverein»

In einer sorgenden Gemeinschaft können ältere Menschen länger selbständig bleiben. Das sagen Gemeindevertreter aus der Region Oberaargau Ost, die beim Verein Choreo mitmachen. Doch der systematische Aufbau erfordert einen langen Schnauf.  

Die Choreo-Initiative bringt Institutionen des Sozial- und Gesundheitsbereichs dazu, vermehrt zusammenzuarbeiten. Das sagt Thomas Eggler, Präsident des Vereins Choreo und Vorsteher des Sozialamtes in der Stadt Langenthal, in einer ersten Bilanz nach drei Jahren. Auch habe der Verein schon konkrete gemeinschaftliche Projekte in der Region Oberaargau Ost unterstützen können, deren Zentrum die Stadt Langenthal mit ihren rund 16'000 Einwohnerinnen und Einwohnern ist. Zugleich würde sich der Choreo-Verein aber noch mehr Mitglieder wünschen: mehr Gemeinden, Organisationen, Privatpersonen. Dass da noch mehr ginge, lag nicht allein an der Pandemiezeit. Es sei eine Herausforderung, das Konzept der sorgenden Gemeinschaft zu vermitteln, stellt Eggler fest: «Bei einem Fussballverein ist sofort allen glasklar, um was es geht. Der Verein Choreo ist nicht so leicht fassbar.» Auch unter den Mitgliedern hätten zunächst unterschiedliche Vorstellungen einer «Caring Community» bestanden, sagt Eggler. Zudem sinke in Zeiten knapper Ressourcen die Bereitschaft, Zeit und Geld in eine solche überregionale Thematik zu investieren. Gerade für kleine Regionsgemeinden weiter weg vom Zentrum seien verständlicherweise andere Fragestellungen dringlicher, vom fehlenden Hausarzt bis zum mangelnden öV-Anschluss.

Es braucht Lösungen

Und doch: Bis zum Jahr 2035 wird gemäss Prognosen die Altersgruppe der über 80-Jährigen im bernischen Oberaargau um weit über 80 Prozent wachsen. Das ist auch der Grund, warum die Gemeinde Thunstetten-Bützberg mit ihren rund 3500 Einwohnerinnen und Einwohnern bei Choreo mitmacht. «Der demografische Wandel und die Plafonierung der Pflegeplätze im Kanton Bern bedingen Lösungen, wie ältere Menschen länger selbständig bleiben können», sagt der fürs Soziale zuständige Gemeinderat Stephan Häring (SP). Möglichst lange im vertrauen Umfeld zu wohnen, entspreche dem Wunsch der älteren Generation. «Das Konzept der sorgenden Gemeinschaften ist die passende Antwort dazu», so Häring.

Mit ihrer Mitgliedschaft im Verein Choreo unterstütze die Gemeinde das Bestreben und empfehle dies auch anderen Gemeinden. Häring weist auf den generationenübergreifenden Ansatz hin. Aufeinander zuzugehen und sich auszutauschen stärke die Gesellschaft, gerade nach Corona: «Die Lebensqualität und somit die Attraktivität der Gemeinde steigt.» Choreo bleibe dran, sagt auch Vereinspräsident Thomas Eggler. Seine wichtigste Lehre aus den bisherigen Erfahrungen: das Ziel der sorgenden Gemeinschaft nicht zu allgemein und nicht zu breit formulieren, sondern thematisch eingrenzen. Und auf bestehende Sozialräume Rücksicht nehmen. Sonst seien die Interessen möglicher Beteiligter «einfach zu unterschiedlich».

Text: Susanne Wenger