Gemeinde Suhr (AG)

Der Lebensqualität im Alter Sorge tragen

«Es braucht jetzt auch die Gesellschaft»

Die Aargauer Agglomerationsgemeinde Suhr unternimmt einiges, damit ältere Menschen möglichst lange selbständig zuhause wohnen können. Ein neuer Dorfverein soll dabei eine wichtige Rolle spielen. Gemeinderat Daniel Rüetschi (FDP) und Socius-Projektleiterin Alexandra Steiner äussern sich zur Idee dahinter und zum Vorgehen.

Daniel Rüetschi, Suhr mit seinen gut 11'000 Einwohnerinnen und Einwohnern verfügt seit 2011 über eine Fachstelle Alter und hat in den letzten Jahren mit der Teilnahme am Programm Socius der Age-Stiftung einen Schwerpunkt gesetzt. Warum ist Ihre Gemeinde alterspolitisch so aktiv?

Daniel Rüetschi: Weil wir der demografischen Entwicklung nicht tatenlos zuschauen wollen. Diese verstärkt sich zunehmend. Nach Prognosen des Kantons werden in Suhr im Jahr 2030 mehr als anderthalb mal so viele über 80-Jährige leben wie zehn Jahre zuvor. Betreuende Angehörige leisten schon jetzt enorm viel, gleichzeitig herrscht beim Pflegepersonal ein Fachkräftemangel. Es braucht jetzt auch die Gesellschaft, um mit dieser Situation umzugehen. Deshalb sprechen wir von einer sorgenden Gemeinschaft.

Im Kanton Aargau tragen die Gemeinden die Pflege-Restkosten. Ist das ebenfalls ein Beweggrund für die aktive Alterspolitik?

Daniel Rüetschi: Ja, Suhr war nie eine reiche Gemeinde. Wir beteiligen uns zum einen mit dem Pilotprojekt «Gesundheit Region Aarau» an Bestrebungen, die Gesundheitsversorgung regional stärker zu koordinieren und die Mittel gezielt einzusetzen. Zum andern wollen wir zuhause lebende ältere Menschen stärker unterstützen. Beides soll das Wachstum bei den stationären Pflegekosten dämpfen helfen. Doch es geht nicht nur um die Kosten. Wichtigstes Ziel unserer Alterspolitik ist die Lebensqualität. Ältere Menschen sollen möglichst lange in den vertrauten Wohnverhältnissen bleiben können, im Quartier, in den Beziehungsnetzen.

Die Gemeinde hat die ältere Bevölkerung gefragt, was sie dafür braucht. Alexandra Steiner, gab es ein Ergebnis, das Sie überrascht hat?

Alexandra Steiner: Überrascht nicht, aber bestärkt, so auch im Wunsch nach Zugehörigkeit und Verbundenheit. Fehlende soziale Kontakte können dazu führen, dass jemand sagt: Ich ziehe ins Heim. Was sich auch deutlich zeigte: Es braucht nichts grossartig Neues, sondern niederschwellige Angebote für Teilhabe und unkomplizierte Unterstützung im Alltag, etwa für kleinere Reparaturen im Haushalt oder Hilfe im Garten. Früher wäre es selbstverständlich gewesen, rasch beim Nachbarn zu klingeln. Doch die gesellschaftlichen Strukturen verändern sich, auch die Familienstrukturen. Gleichzeitig möchten sich mehr Pensionierte mit ihren Fähigkeiten engagieren. Dazu brauchen sie eine Struktur, in der sie sich einbringen können.

Hier setzt die Gemeinde mit dem Aufbau einer sorgenden Gemeinschaft an, basierend auf einem mit der Fachhochschule Nordwestschweiz erarbeiteten Konzept. Was ist konkret vorgesehen?

Alexandra Steiner: Eine der wichtigsten Neuerungen ist, dass die bestehende Seniorenkommission der Gemeinde erweitert und in einen Verein überführt werden soll. Die Seniorenkommission hat bereits heute eine wichtige Funktion an der Schnittstelle zwischen Verwaltung und Bevölkerung. Mit dem Verein wird dies noch ausgebaut. Wir können darin alle einbinden, die sich im und fürs Alter engagieren möchten, sei es mit Ideen, Anlässen, Anliegen, oder um in der Nachbarschaftshilfe mitzuwirken.

Daniel Rüetschi: Die Erfahrung auch hier in Suhr hat gezeigt, dass freiwillig Engagierte nicht ganz auf sich allein gestellt sein sollten. Sonst schlafen Initiativen wie eine Nachbarschaftshilfe nach einiger Zeit wieder ein. Mit dem Verein als Gefäss und Stütze wollen wir etwas aufbauen, das Bestand hat, und das die Seniorenkommission allein nicht leisten könnte. Diese ist heute schon sehr aktiv und gut ausgelastet…

Alexandra Steiner: …die Seniorenkommission hat beispielsweise rasch auf unsere Bedarfsanalyse reagiert und Projekte für Begegnungen auf die Beine gestellt. Sie organisiert unter anderem regelmässige Dorfspaziergänge, die mit fachlichen Ausführungen zu einem bestimmten Thema verbunden sind. Sie werden so ausgestaltet, dass auch ältere Menschen dabei sein können, die nicht mehr gut zu Fuss sind.

Daniel Rüetschi: Das sind gut besuchte Veranstaltungen. Ich habe kürzlich selber teilgenommen, als Referent zum Thema Wasser. Der Verein wird künftig die Möglichkeit haben, noch mehr Aufgaben im Bereich Alter zu übernehmen und diese auf mehr Schultern zu verteilen. Das ist jedenfalls unsere Absicht. Der Gemeinderat stimmte dem Vorhaben im Mai 2023 zu, jetzt starten die Aufbauarbeiten. Wir versuchen, mit Informationsanlässen bei möglichst vielen die Lust zu wecken, im Verein mitzumachen. Dabei helfen uns die Interessentinnen und Interessenten, die es bereits gibt. Ob sich genügend Einwohnerinnen und Einwohner mobilisieren lassen, werden wir sehen.

Was werden die Aufgaben des Vereins sein, und was ist die Rolle der Gemeinde dabei?

Daniel Rüetschi: Wie die Gemeinde mit dem Verein zusammenarbeitet und wie sie ihn unterstützt, ist derzeit noch nicht festgelegt. Auch das Aufgabenspektrum des Vereins ist noch offen. Sicher gehören konkrete Unterstützungsmassnahmen im Alltag der älteren Menschen durch Freiwillige dazu. Der Verein kann aber auch zum Sprachrohr der älteren Bevölkerung werden, zur Lobbyorganisation. Umgekehrt wird er für die Gemeinde der Ansprechpartner aus der Mitte der Gesellschaft sein, wenn es um das Thema Alter geht.

Alexandra Steiner: Zugleich wird der Verein in der Fachgruppe Alter vertreten sein. In diesem Gremium tauschen sich – unter Federführung der Gemeinde – die professionellen Leistungserbringer regelmässig aus. Dazu gehören die beiden Pflegeheime in Suhr, die Spitex, die Kirchen und weitere Organisationen. Sie koordinieren, soweit möglich, ihre Angebote. Der Verein wird also auch dort seine Anliegen vorbringen können. Das ist gelebte Partizipation und entspricht dem Konzept der sorgenden Gemeinschaft: Das professionelle Pflege- und Betreuungssystem sowie das informelle System der Freiwilligen, Nachbarn und Angehörigen vernetzen und verweben sich. Es braucht beide, je nach Phase des Älterwerdens.

Im Verein werden sich Freiwillige organisieren, um ältere Menschen im Alltag zu unterstützen?

Alexandra Steiner: Genau. Wer etwa Hilfe beim Umzug oder im Garten braucht, kann beim Verein anrufen. Auch beispielsweise die Pflegeheime werden an den Verein gelangen können, wenn sie Freiwillige suchen. Der Vorteil eines von der Gemeinde vermittelten Vereins ist, dass die älteren Menschen dem Angebot vertrauen können. Das ist ein wichtiger Unterschied etwa zu digitalen Plattformen mit Rubriken «Ich suche» und «Ich biete». Dort wird es für die Älteren oft schwierig, weil sie nicht wissen, wie seriös eine offerierte Dienstleistung ist.

Daniel Rüetschi: Kommt dazu: Die meisten Menschen in Suhr können es sich nicht leisten, für Betreuung und Unterstützung im Alltag zu bezahlen. Diese muss, anders als die Pflege, vollständig privat finanziert werden. Auch das Wohnen mit Dienstleistungen ist für viele zu teuer, weil es nicht wie das Heim mit Ergänzungsleistungen zur AHV finanziert werden kann. Das ist eine Riesenlücke im System, die zu verfrühten Heimeintritten und damit unter dem Strich zu höheren Kosten für die Allgemein führt. Wie so oft im Gesundheitswesen wird die heisse Kartoffel herumgereicht, während das Problem dahinter ungelöst bleibt.

Der Bundesrat will dies ändern. Er schlägt vor, älteren Menschen in bescheidenen finanziellen Verhältnissen Betreuungsleistungen zuhause via EL zu finanzieren.

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Daniel Rüetschi: Das begrüsse ich, glaube es aber erst, wenn es beschlossene Sache ist. Das Gesetz kennt heute nur zwei Formen des Wohnens im Alter: entweder zuhause oder im Heim. Alles dazwischen fehlt. Die gesetzlichen Voraussetzungen werden dem üblichen graduellen Prozess des Älterwerdens nicht gerecht: dass die Selbständigkeit allmählich ab- und der Unterstützungsbedarf zunimmt.

Sie als freisinniger Politiker bauen eine sorgende Gemeinschaft auf. Ist das wirklich eine Aufgabe des Staates?

Daniel Rüetschi: Ja, als Hilfe zur Selbstorganisation. Die Gemeinde gibt einen Rahmen vor und stellt eine Plattform zur Verfügung, welche die Bürgerinnen und Bürger nach ihren Bedürfnissen nutzen können. Als sozialliberaler Freisinniger halte ich das Bild des Citoyen hoch, des engagierten Bürgers. Den demografischen Wandel und auch andere Veränderungen meistern wir nur, wenn wir den Zusammenhalt stärken. Gehen Staat und Bürger Hand in Hand, entsteht längerfristig eine resiliente Struktur. In Suhr kann die Gemeinde auf eine Tradition aufbauen. Es gibt viele Freiwillige, die sich in über 70 Vereinen engagieren. Zudem hat die Gemeinde mit dem gewählten Vorgehen einen verlässlichen Ansprechpartner.

Alexandra Steiner: Ich finde es toll, dass der Gemeinderat sich für einen so innovativen und zugleich pragmatischen Weg entschieden hat. In Suhr gibt es viele professionelle und ehrenamtliche Trägerschaften und Angebote, die ältere Menschen in der einen oder anderen Weise unterstützen. Die Herausforderung im Socius-Projekt war es, sie zusammenzubringen, ohne eine überdimensionierte, mit hohen Kosten verbundene Struktur zu schaffen. In unserer Gemeinde hatten wir einen Startvorteil, weil die Leistungserbringer hier schon vor einigen Jahren angefangen haben zusammenzuarbeiten. Es herrscht eine gute Gesprächskultur.

Initiierte die Gemeinde diese Zusammenarbeit?

Daniel Rüetschi: Ja, auch. Als zuständiger Gemeinderat brauche ich in der Alterspolitik Ansprechpartner auf fachlich-strategischer Ebene. So entstand 2018 die erwähnte Fachgruppe. Sie ist während dem Socius-Projekt zur Arbeitsgruppe «Koordinierte Versorgung» geworden. Die Akteure einzubeziehen, welche die Alterspolitik in der Praxis umsetzen, ist für mich zentral. Schustert der Gemeinderat alleine etwas zusammen, funktioniert es nicht. Zudem erzielen wir alterspolitisch die grösste Hebelwirkung, wenn sich die Fachleute untereinander koordinieren. Wir können es uns schlicht nicht mehr leisten, dass jede Institution nur für sich schaut und Konkurrenzdenken zu Reibungsverlusten führt.

Geht die Koordination noch weiter als sich in der Fachgruppe auszustauschen?

Daniel Rüetschi: Ja, Anfang 2023 fusionierten die Spitex Suhr und das Alters- und Pflegeheim Steinfeld, das von fünf Gemeinden getragen wird, darunter Suhr. Ambulante und stationäre Pflege verzahnen sich: Das ist die Richtung, in die moderne Alterspolitik gehen muss. Aber auch mit weniger weit gehenden Formen der Koordination ist bereits viel gewonnen. Die Fachgruppe Alter besteht nach Socius weiter, ergänzt um den neuen Verein, der im Frühling 2024 gegründet werden soll. Das Ganze ist mehr als die Summe der Teile.

Alexandra Steiner: Wir haben in der Gemeinde in breitem Rahmen angefangen, über das Alter ins Gespräch zu kommen. Das soll auch die älter werdenden Menschen selber sensibilisieren, sich frühzeitig mit der Frage zu befassen: Was werde ich benötigen, um weiterhin selbstbestimmt leben zu können, wenn altersbedingte Einschränkungen auftreten? Viele setzen sich viel zu spät damit auseinander, oft erst, wenn es brennt, wie wir von unseren Fachleuten wissen. Gelingt die Sensibilisierung, trägt das Socius-Projekt längerfristig Früchte.

Zu den Personen:

Daniel Rüetschi ist seit 2014 Mitglied des Suhrer Gemeinderats. Er leitet in der mehrheitlich bürgerlichen Exekutive das Ressort Soziales, Gesellschaft und Gesundheit. Beruflich führt der Biologe und promovierte Geograf unter anderem ein Beratungsunternehmen im Umweltbereich.

Alexandra Steiner ist seit 2021 Leiterin der Fachstelle Alter der Gemeinde Suhr (20-Prozent-Pensum). Zusätzlich hat sie bis Ende 2024 die Leitung des Suhrer Socius-Projekts inne (60 Prozent). Nach einer juristischen Laufbahn absolvierte sie eine Zweitausbildung in Sozialer Arbeit.

Interview: Susanne Wenger