Region Sursee (LU)

Neunzehn Gemeinden, eine Alterspolitik

Wie das Leben im Alter rund um den Sempachersee zum grossen Thema wurde

Der demografische Wandel lässt die Gemeinden in der Region Sursee zusammenrücken. Sie stärken unter anderem lokales Engagement für soziale Beziehungen. Die Zusammenarbeit ist per Gemeindevertrag geregelt und weitet sich nun noch aus. Beteiligte geben hier Einblick in Erfahrungen und Ergebnisse.

Die wachsende Zahl älterer Menschen fordert die Gemeinden, eröffnet ihnen aber auch neue Möglichkeiten, das Zusammenleben zu gestalten. Denn viele Ältere sind heute länger bei guter Gesundheit und bereit, sich gesellschaftlich zu engagieren. In der Region Sursee ist dies erkannt. Mehr noch: 16 von 19 Gemeinden rund um den Sempachersee entwickeln zusammen fortschrittliche Lösungen: die Kleinstädte Sursee und Sempach sowie die ländlich geprägten Gemeinden von Triengen bis Neuenkirch. Ein gemeinsam erarbeitetes regionales Altersleitbild trat 2019 in Kraft. Es zielt unter anderem darauf ab, das selbständige Wohnen zuhause so lange wie möglich zu unterstützen, auch durch ein solidarisches Umfeld.

Etwa 70'000 Menschen leben in der Region. Obwohl Regionen keine eigenständige Ebene bilden, sind sie alterspolitisch sinnvoll und geboten. Davon ist Jolanda Achermann Sen, Präsidentin der Kommission für Altersfragen der Region Sursee, überzeugt. «Ältere Menschen sind mobiler als früher, und so hört auch die Alterspolitik immer weniger an der Gemeindegrenze auf», hält die SP-Stadträtin und Sozialvorsteherin von Sursee mit rund 10'700 Einwohnerinnen und Einwohnern fest. Sie ist seit 2013 im Amt und weiss um die unterschiedlichen Voraussetzungen in den Gemeinden, um mit der demografischen Entwicklung umzugehen. Über einen regionalen Lastenausgleich lasse sich Infrastruktur gemeinsam tragen, sagt sie, und dank Effizienzgewinnen sollten Angebote bezahlbar bleiben.

Austausch statt «Extrazüglein»

«Die vielen Fragen, die mit der älter werdenden Bevölkerung auf uns zukommen, könnten wir als einzelne Gemeinde kaum mehr bewältigen», bestätigt Brigitte Bösch. Sie ist FDP-Gemeinderätin von Grosswangen mit rund 3200 Einwohnerinnen und Einwohnern, zuständig für das Ressort Soziales. Seit 2019 im Amt, ist sie ebenfalls Mitglied der regionalen Alterskommission. Ihrer Gemeinde und ihr selber als nebenamtlicher Gemeinderätin bringe das regionale Vorgehen viel, sagt sie – und denkt dabei nicht nur an den Kostenteiler, sondern auch an Strategien: «Anstatt dass jede Gemeinde alles selber erarbeitet und ein Extrazüglein fährt, können wir links und rechts schauen, wie es die Nachbargemeinden machen, und Synergien nutzen.»

Als Beispiel nennt die Gemeinderätin die Dorf- und Quartierrundgänge, die im Rahmen des regionalen Altersleitbildes und in Zusammenarbeit mit Pro Senectute als Leuchtturm-Projekt entwickelt wurden. Dabei weisen ältere Menschen die Verantwortlichen auf Hindernisse hin – von fehlenden Sitzbänken und Handläufen über ungeeignete Beläge bis zu engen Passagen, bei denen mit dem Rollator kein Durchkommen ist. Als Grosswangen das Projekt übernahm, habe man sich bei der Organisation auf die geleistete Vorarbeit und die Erfahrungen anderer Gemeinden stützen können, sagt Brigitte Bösch. Dies beschleunige auch die Umsetzung.

62 Rappen pro Kopf

Die Zusammenarbeit in der Region Sursee bleibt nicht im Wolkigen, die Gemeinden regeln sie verbindlich in einem Gemeindevertrag. Dieser sieht vor, dass jede Gemeinde Pro-Kopf-Beiträge entrichtet, derzeit 62 Rappen pro Einwohnerin und Einwohner. So kommt ein jährlicher Grundstock von 38'000 Franken zusammen, der das Altersleitbild am Laufen hält. Alle vier Jahre wird der Obolus neu beantragt. Zusätzlich werden je nach Thema Gelder akquiriert, bei der Gesundheitsförderung, bei Stiftungen. So sei die Teilnahme am Programm Socius der Age-Stiftung «ein riesiger Erfolgsfaktor» gewesen, anerkennt Kommissionspräsidentin Jolanda Achermann Sen.

Der Gemeindevertrag legt weiter eine Trägerstruktur samt Kompetenzen fest. Die neu gegründete Kommission für Altersfragen der Region Sursee fungiert als strategisches Gremium. Es ist breit aufgestellt und geschickt verzahnt. Neben Vertreterinnen und Vertretern von Gemeinde-Exekutiven wirken darin Leistungserbringer und Organisationen mit: die regionale Spitex und stationäre Langzeitpflege, die kantonale Gesundheitsförderung, die ökumenische Koordinationsstelle Palliative-Care-Seelsorge Kanton Luzern, Pro Senectute, das Schweizerische Rote Kreuz SRK. Auch die Seniorinnen und Senioren haben eine Stimme. Die Kommission tritt viermal jährlich zusammen. Daneben tauschen sich die kommunalen Sozialvorsteherinnen und -vorsteher unterschiedlicher politischer Couleur regelmässig aus.

Netzwerk pensionierter Freiwilliger

Die operative Leitung übertragen die Gemeinden einer festen Geschäftsführung. Sie wird von der soziokulturellen Animatorin und Gemeinwesen-Entwicklerin Fanny Nüssli mit einem 20-Prozent-Mandat wahrgenommen. Die Geschäftsführerin arbeitet eng mit freiwillig Engagierten zusammen (siehe untenstehenden Text). Ob Nachbarschaftshilfe, Mittagstische, Treffs, die Organisation gemeinsamer Aktivitäten oder die Begleitung erkrankter Menschen: solche Leistung von Ehrenamtlichen bildet das Budget nicht ab. Doch sie lokal und regional zu ermutigen und auszubauen, ist ein Bestandteil des Altersleitbildes.

Neu entsteht denn auch ein gemeindeübergreifendes Freiwilligen-Netzwerk, das aus den sogenannten Gemeindevertretungen besteht: ein bis zwei Freiwillige pro Gemeinde, meist jüngere Pensionierte, die sich an ihren Wohnorten vielfältig engagieren. Sie werden zweimal jährlich zu Treffen eingeladen. Neben Kaffe und Kuchen erhalten sie Sachwissen, beispielsweise zum Thema Einsamkeit. Auch im Gespräch untereinander können sich die Freiwilligen anregen lassen und Ideen für die eigene Gemeinde mitnehmen. «Wir würdigen so ihre Arbeit und sagen Danke», unterstreicht Kommissionspräsidentin Jolanda Achermann Sen. Das werde spürbar geschätzt und gebe Zusammenhalt über die Gemeindegrenzen hinaus.

Drehscheibe, Website, Pilotprojekte

Inhaltlich einigen sich die Gemeinden jeweils für einen definierten Zeitraum auf Schwerpunkte. Ein Pfeiler des regionalen Altersleitbildes ist seit 2021 die «Drehscheibe 65plus Region Sursee». Dabei handelt es sich um eine Anlaufstelle zu Altersfragen, die ältere Menschen und Angehörige kostenlos nutzen können. Weiter kann sich die Bevölkerung auf der eigens errichteten Plattform www.alterbewegt.ch umsehen. Die Website informiert darüber, was altersmässig so läuft, vom «Café Balance» mit sanfter Gymnastik über die «1. Jungseniorenfeier» bis zur Schulung für Angehörige von Menschen mit Demenz. Zudem sind die verfügbaren Unterstützungsangebote aufgeführt: Mahlzeitendienste, Fahrdienste und vieles mehr.

Themen, die die Gemeinden derzeit gemeinsam bearbeiten, sind Alter und Migration, sorgende Gemeinschaften und Palliative Care, also die Betreuung schwerkranker Menschen bis zum Lebensende. Sorgende Gemeinschaft bedeutet, dass verschiedene Akteure an einem Ort gut zusammenwirken: der Staat, die professionellen Leistungserbringer von der Spitex bis zur Kirche und die ehrenamtlichen Kräfte in Familie und Gesellschaft. Zur sorgenden Gemeinschaft und zum Palliativ-Netzwerk laufen Pilotprojekte. «Wir starten jeweils in Pilotgemeinden und schauen, wie sich etwas entwickelt und wo es noch Korrekturen braucht», erklärt Kommissionspräsidentin Jolanda Achermann Sen das Vorgehen. Über die Umsetzung entscheiden die Gemeinden frei, je nach Bedürfnissen und Gegebenheiten vor Ort.

«Gewerbeausstellung der Freiwilligen»

Ein Höhepunkt war der «Regionale Marktplatz 60plus» vom Herbst 2022 in Sursee. Organisationen rund ums Alter stellten sich vor, aber nicht etwa nur die etablierten, sondern vor allem auch viele ehrenamtlich getragene, vom Frauenbund über Vereine bis zu Turn-, Jass- und Wandergruppen. Geschäftsführerin Fanny Nüssli spricht von einer «Gewerbeausstellung der Freiwilligen». Für sie ist der rege besuchte Marktplatz Ausdruck davon, dass sich das Thema Alter von der Behörden- und Institutionenebene «in die Zivilgesellschaft hinein bewegt hat.» Der Anlass wird 2024 wiederholt.

Im Fokus auf den Sozialraum – also auf Nahraum, Alltag, gesellschaftliches Miteinander – sieht die Surseer Stadträtin Jolanda Achermann Sen den alterspolitischen Fortschritt. Bei den Angeboten für das vierte Lebensalter, wie der ambulanten und stationären Pflege, sei die Planungsregion Sursee «bereits gut aufgestellt». Nun würden «die vorgelagerten Angebote» à jour gebracht und das dritte Lebensalter einbezogen, die jungen Älteren. Dies nicht nur, weil sie viel beitragen können. Bei ihnen kann auch fürs höhere Alter vorgesorgt werden, durch Gesundheitsprävention und das frühzeitige Knüpfen sozialer Netzwerke.

Am Anfang: politischer Wille

In den meisten Kantonen sind die Gemeinden alterspolitisch zuständig, und die Gemeindeautonomie ist in der Schweiz ein hohes Gut. Auch wenn die Demografie drängt, ist es deshalb aussergewöhnlich, dass so viele Gemeinden zusammenspannen wie in der Region Sursee – und sich erst noch entschliessen, die Stärkung des gesellschaftlichen Kümmerns als steuerfinanzierte Gemeindeaufgabe zu sehen. Wie ist das Kunststück gelungen? Nicht von heute auf morgen, antwortet Kommissionspräsidentin Jolanda Achermann Sen: «Es brauchte Ausdauer.» Und ganz am Anfang politischen Willen, der dazu führte, dass sich 2015 zunächst die Stadt Sursee und fünf Nachbargemeinden auf den Weg machten.

Was dort begann, weitete sich in den folgenden fünf Jahren auf die Region aus. Weitere zehn Gemeinden stiessen dazu. «Wir konnten mit Argumenten und Ergebnissen überzeugen», sagt Jolanda Achermann Sen. Geholfen habe auch, dass der finanzielle Beitrag bescheiden sei. Kleines Budget, machbare Schritte, sichtbarer Mehrwert – es sei eine Entwicklung nach diesem Motto gewesen. Inzwischen wollen sich auch die drei Regionsgemeinden anschliessen, die den Vertrag bisher nicht unterzeichnet haben. Eine von ihnen ist bereits ab 2024 offiziell dabei. «Ein voller Erfolg», freut sich die Kommissionspräsidentin.

Innovation dank regionaler Impulse

Gemeinderätin Brigitte Bösch von Grosswangen zieht ebenfalls eine positive Zwischenbilanz. Durch die wiederkehrenden Treffen im Rahmen des regionalen Altersleitbilds «bleibt man am Thema dran», sagt sie. Vor Ort wisse man am besten, was es brauche. «Jede Region tickt anders», sagt die Exekutivpolitikerin. In Grosswangen führten die Impulse durch die regionale Zusammenarbeit zu Innovation. Seit Herbst 2023 kümmert sich die bisherige Jugendarbeit neu auch um das Alter. Der Gemeinderat erhöhte hierfür das Pensum von 30 auf 40 Prozent. «Der Seniorenkreis in unserer Gemeinde macht schon sehr viel», begründet die Sozialvorsteherin den Schritt. Um die Freiwilligen nicht zu überbeanspruchen, wird nun auch eine bei der Gemeinde angestellte Fachfrau aktiv.

«Die Älteren sind dabei, das finde ich gut»

Eine Redaktionsgruppe aus pensionierten Freiwilligen arbeitet an der Website des regionalen Altersleitbilds Sursee mit, unter ihnen Werner Mathis (69). Er sagt, was ihn motiviert, und warum er – zum Beispiel – über den Frauenstammtisch im «Rössli» Ruswil schreibt.

«Ich war immer einer, der die Zusammenarbeit sucht», sagt Werner Mathis aus Sursee. Schon im Berufsleben, als Leiter einer höheren Fachschule, habe er Gesundheit und Soziales verbunden. Beim Thema Älterwerden brauche es dies ganz besonders, ist er überzeugt. Deshalb teilt er die Ziele des regionalen Altersleitbildes und willigte ein, als er angefragt wurde, kommunikativ mitzuwirken. Frisch pensioniert, hat er Zeit dafür. Zudem bringt er als freier Mitarbeiter der «Surseer Woche» Erfahrung und beste Regionskenntnisse mit.

Werner Mathis half mit, ein Newsletter-Konzept zu entwickeln. Er gehört heute einer fünfköpfigen Redaktionsgruppe an, die Beiträge für die Website www.alterbewegt.ch verfasst. Alle Redaktionsmitglieder sind im Rentenalter und arbeiten ehrenamtlich. Zum Team gehört auch die Geschäftsführerin des regionalen Altersleitbilds. Dass die Trägergemeinden schon vom Ansatz her nicht über die Köpfe der Älteren hinweg agieren, sondern deren Sichtweisen und Fähigkeiten einbeziehen, schätzt Mathis: «Die älteren Menschen sind dabei, das finde ich wichtig und gut.»

Geschichten erzählen

Auf der Website hat es Behördeninformationen und Veranstaltungshinweise. Für Werner Mathis gut und recht. Doch damit die Plattform genutzt werde, sollte sie «auch ein wenig leben», sagt er. Deshalb will die Redaktion – deren Mitglieder als ü60 selber zur Zielgruppe gehören – Geschichten erzählen. Davon, wie Menschen aus der Region Sursee das Leben im Alter gestalten. Was sie für die Gesellschaft leisten, welche Ideen sie haben. Und was sie beschäftigt. Auch Gemeinderätinnen und Gemeinderäte gelte es einmal von der persönlichen Seite darzustellen. «Das Altersleitbild darf kein Papiertiger bleiben», bekräftigt Mathis.

Die bisher publizierten Beiträge der ehrenamtlichen Reporterinnen und Reporter sind vielfältig. Zu lesen sind grosselterliche Erfahrungsberichte und das Porträt der Frau, die das «Kafi Erennerig» (Erinnerung) in Oberkirch gegründet hat. Ein Handyvideo zeigt, wie ältere Semester an der Musikschule Sursee ein Instrument erlernen. Die langjährige Pflegeleiterin eines regionalen Alterszentrum beantwortet die Frage, wie ihr der Übergang ins Rentenalter gelungen ist. Die Schreibenden scheuten sich auch nicht, die Trägergemeinden einem kritischen «Senioren-Test» zu unterziehen.

«Mut, etwas Neues anzustossen»

Um Geschichten und Menschen für seine Artikel aufzuspüren, ist Werner Mathis viel in der Region unterwegs. Er spricht die Leute auch schon mal beim Heuen an. Besonders beeindruckt war er vom Frauenstammtisch im «Rössli» Ruswil, den er kürzlich besuchte. Für ältere Frauen einer bestimmten Generation auf dem Land sei es keineswegs selbstverständlich, alleine ins Restaurant zu gehen, weiss er: «Doch sie geniessen es und pflegen den Kontakt.» Werner Mathis begrüsst die alterspolitische Initiative in seiner Region und nimmt diese als offen wahr: «Die Gemeinden hatten den Mut, etwas Neues anzustossen.»

Text: Susanne Wenger