Gemeinde Wittenbach (SG)

Eine «sorgende Gemeinschaft», auch digital vernetzt

Der Chatbot bietet schnelle Orientierung im Dickicht der Angebote

In Wittenbach können ältere Menschen und ihre Angehörigen seit 2022 den «Chatbot 42» nutzen, um nach Unterstützungsangeboten zu suchen. Der Online-Assistent wurde von der Gemeinde und Altersinstitutionen entwickelt, auch die Älteren selber redeten mit.

Zu Beginn etwas Technik, keine Sorge, nur das Nötigste. Der «Chatbot 42» ist ein textbasiertes Dialogsystem, mit dem man in Wittenbach am Computer nach Unterstützung im Alter suchen kann. Der Begriff setzt sich aus den englischen Wörtern «to chat» (plaudern, sich unterhalten) und «robot» (Roboter) zusammen. Die Zahl 42 bezieht sich auf eine bekannte Roman-, Hörspiel- und Filmreihe des britischen Autors Douglas Adams mit dem Titel «The Hitchhiker's Guide to the Galaxy». Zu Deutsch: Per Anhalter ins All. Darin errechnet ein Supercomputer die Antwort auf sämtliche Fragen des Lebens. Sie lautet: 42.

Der Name des Wittenbacher Chatbots soll spielerisch auf den Zweck der Plattform als «Navigationssystem im Angebotsdschungel» hinweisen, erklärt Ruth Keller, die Leiterin des Socius-Projekts. Nutzerinnen und Nutzer können anhand ihrer Fragen zu den gewünschten Hilfestellungen gelangen, ohne diese umständlich an verschiedenen Orten zusammensuchen zu müssen. Die Plattform ist seit Mitte 2022 online und wird von der Gemeinde Wittenbach, der Spitex «Regio Wittenbach», Pro Senectute Kanton St. Gallen, dem Alterszentrum Kappelhof und dem Sozialunternehmen Obvita getragen.

Wie der Chatbot funktioniert

Nehmen wir an, die Tochter einer über 80-jährigen Mutter, die an Demenz erkrankt ist, möchte wissen, wie ihr Vater als betreuender Angehöriger unterstützt werden kann. Auf der Chatbot-Website kann sie sofort mit der Suche loslegen, ohne sich registrieren zu müssen. Ein Fragebaum führt sie durch das System. Die Nutzerin wählt aus verschiedenen Antwortoptionen aus, je nachdem, ob sie eine Angehörige, eine Freiwillige oder eine Seniorin ist. Sie kann angeben, ob sie Unterstützung für sich selbst oder eine andere Person sucht, und zu welchem Thema sie ein Anliegen hat: Wohnen, körperliche Einschränkungen, Freizeit/Kultur/Sport, Beratung, Krankheiten, Einsamkeit oder Unterstützung im Alltag.

Die Tochter nimmt das Thema Krankheiten, dann Demenz/Alzheimer. Nun wird sie gefragt, ob sie Informationen oder Entlastung benötigt. Nachdem sie Entlastung angeklickt hat, sucht der Chatbot kurz – und listet dann drei regionale Angebote auf: Ein Alters- und Pflegeheim, das Tages- und Nachtbetreuung zur Entlastung betreuender Angehöriger anbietet, sowie zwei Tagesstätten, die Menschen mit Demenz Aktivitäten und Begegnungen ermöglichen. Die Tochter sieht die Kontaktangaben der Anbieter und kann über einen externen Link deren Website besuchen. Am Ende kann sie Feedback hinterlassen, ob der Chatbot hilfreich war.

Breite Themenpalette

Mit nur sechs Klicks und in weniger als zwei Minuten erhält die Nutzerin ein Ergebnis. Sie ist nun neugierig und möchte wissen, welche Alltagshilfen es für ihre hochaltrigen Eltern gibt. Sie startet eine neue Suche. Der Chatbot führt sie zu einem Alltagshilfen-Auswahlmenü mit acht Themen, darunter kosmetische Pflege, handwerkliche Hilfe, Einkaufen oder Haustiere. Sie wählt kosmetische Pflege aus und landet bei einer Coiffeuse in Wittenbach, die Hausbesuche vornimmt.

Diese Beispiele zeigen den Ansatz, der dem Wittenbacher Chatbot zugrundeliegt: Er berücksichtigt nicht allein Pflege und medizinische Aspekte, sondern auch den Alltag, die Freizeit, soziale Kontakte. Und er richtet sich konsequent an ältere Menschen und ihre Angehörigen, die denn auch an der Entwicklung beteiligt waren. Die Projektverantwortlichen wandten hierfür die Methode des Design Thinking an, bei der die Bedürfnisse der Nutzerinnen und Nutzer im Vordergrund stehen: Bevor in eine neue Lösung investiert wird, wird ermittelt, was die Menschen wirklich brauchen. Entwürfe werden als Prototypen in der Praxis getestet.

Wer schaut zum Hund?

«Die Methode war für die Vertreterinnen und Vertreter des Gesundheits- und Sozialwesens ungewohnt», sagt Projektleiterin Ruth Keller rückblickend. Aber der Prozess sei interessant und kreativ gewesen. Studierende der Universität St. Gallen führten 40 Interviews mit älteren Menschen, Angehörigen und Mitarbeitenden der Leistungserbringer durch. Daraus entstanden 30 Prototyp-Ideen, unter denen schliesslich der Chatbot auserkoren wurde. Nach einer Testphase mit älteren Menschen wurde er umgesetzt. «Wir wollten das Ganze von den Menschen her denken, nicht von den Organisationen», so Ruth Keller.

Dies erforderte ein Umdenken, sagt Stefanie Maselli, Geschäftsleiterin der Spitex «Regio Wittenbach». Beim Festlegen der Frageabfolge sprachen die Fachleute zunächst – gewohnt ressourcenorientiert – über das Thema Gesundheit. Dann wurde ihnen klar: Menschen, die nach Unterstützung bei Demenz, psychischen Belastungen oder Hörproblemen suchen, gehen meist nicht vom Gesundheitsbegriff aus, sondern von der Erkrankung selbst. Deshalb heisst der entsprechende Menüpunkt im Chatbot nun «Krankheiten». Und als in einem Musterbeispiel ein älterer Herr ins Spital musste, war seine erste Sorge nicht wie erwartet das Pflegearrangement, sondern die Frage: Wer kümmert sich um meinen Hund? So enthält der Chatbot jetzt eben auch den Menüpunkt «Haustiere».

Nur mit klarem Mehrwert

Die digitale Plattform umfasst bereits rund 200 Unterstützungsangebote zum Thema Alter. Dienstleister müssen sich bewerben und Kriterien erfüllen, um aufgenommen zu werden. Die Angebote sollen aus der Region stammen und einen klaren Mehrwert für ältere Menschen aufweisen, unterstreicht Ruth Keller. Dies dient der Qualitätssicherung und verhindert, dass der Chatbot zu einer kostenlosen Werbeplattform wird. Neben gemeinnützigen und professionellen Dienstleistern werden auch kommerzielle Anbieter berücksichtigt, sofern sie den altersbezogenen Mehrwert nachweisen – wie die Coiffeuse, die auf Hausbesuch kommt. Oder das Restaurant, das Mahlzeiten heimliefert. Der Chatbot soll gerade auch älteren Menschen, die nicht mehr mobil sind, einen Nutzen bieten, sagt Spitex-Geschäftsleiterin Stefanie Maselli.

Die technische Umsetzung und den Betrieb der Plattform hat Obvita übernommen, ein soziales Unternehmen des Ostschweizerischen Blindenfürsorgevereins in St. Gallen mit eigener IT-Abteilung. Der Leistungsvertrag mit Obvita besteht vorerst für die Dauer des Socius-Projekts. In den ersten sechs Monaten nach dem Start im Jahr 2022 erhielt der Chatbot 1080 Anfragen, und auch im Jahr 2023 setzte sich das Interesse in ähnlichem Umfang fort. Projektleiterin Ruth Keller betont jedoch, dass die quantitative Reichweite nicht das Hauptkriterium ist. Der Chatbot werde nicht täglich genutzt wie eine Online-Zeitung, sondern bewusst in Situationen, in denen ältere Menschen Unterstützung benötigen. Entscheidend sei, dass Interessierte in solchen Situationen eine praktische Informationsquelle vorfinden.

Der Button «Einsamkeit»

Der Chatbot ersetzt nicht die persönliche Beratung, betonen Ruth Keller und Stefanie Maselli unisono. Doch er ermöglicht Ratsuchenden, innerhalb kurzer Zeit herauszufinden, welche Beratungsstellen in ihrer Nähe verfügbar sind. Weitere Vorteile sind die zeit- und ortsunabhängige Suche, die regionale Darstellung der Dienstleistungen und der anonyme Zugang. Menschen etwa, die sich einsam fühlen, können zu Hause am Computer den Button «Einsamkeit» anklicken, ohne das Thema vor jemandem ansprechen zu müssen.

In Wittenbach mit seinen rund 9800 Einwohnerinnen und Einwohnern treffen der demografische Wandel und die Digitalisierung aufeinander. Letztere schreitet rasant voran, und die Mehrheit der älteren Menschen in der Schweiz nutzt die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien, wie eine Studie der Pro Senectute 2020 ergab. Der digitale Altersgraben hat sich gemäss der Studie nach hinten verschoben und liegt nun bei 80 Jahren. «Für heute hochbetagte Menschen ist der Chatbot wahrscheinlich weniger geeignet», stellt Ruth Keller fest. Für jüngere Rentnerinnen und Rentner sowie für digital versierte Töchter und Söhne, die ihre älter werdenden Eltern unterstützen, sei er jedoch eine nützliche Hilfe. Zudem möchte man sich in Wittenbach mit dem Chatbot auf die Zukunft vorbereiten, in der Senioren-Generationen mit der Digitalisierung vertraut sind und Informationen ganz selbstverständlich online suchen.

Weitere Partner gewinnen

Der Chatbot 42 steht sowohl der Bevölkerung als auch den Leistungserbringern in und um Wittenbach zur Verfügung. Er dient den Leistungserbringern als Multiplikator für ihre Angebote und hat die Zusammenarbeit zwischen ihnen verstärkt. Für Organisationen wie die Spitex, die laut Geschäftsleiterin Maselli «eine Drehscheiben-Funktion» ausübt, ist die neue digitale Informationssammlung besonders hilfreich. Spitex-Mitarbeitende können Klientinnen und Klienten auf den Chatbot hinweisen oder diesen gemeinsam mit ihnen nach den erforderlichen Unterstützungsangeboten durchforsten. Der Chatbot ist zudem über die Webseiten der Trägerorganisationen erreichbar.

«Wir haben mit vereinten Kräften etwas auf die Beine gestellt», freut sich Projektleiterin Ruth Keller. Dies zieht nun Kreise. Die Institutionen gründeten zusätzlich einen Ausbildungsverbund und denken über gemeinsame Weiterbildungen nach. Der Chatbot habe etwas in Bewegung gebracht, sagt Ruth Keller. Nach der Pilotphase soll die digitale Plattform in die Verantwortung der Alterskommission der Gemeinde Wittenbach übergehen. Die Gemeinde leistete in der Projektphase jährliche Beiträge zur Entwicklung, die zukünftigen Unterhaltskosten werden nach Einschätzung der Projektleiterin überschaubar sein. Ziel ist es, weitere Partner für den digitalen Assistenten zu gewinnen, darunter auch andere Gemeinden. Zudem soll die Benutzerfreundlichkeit des Chatbots weiter verbessert werden, etwa durch die Möglichkeit, sich die Texte vorlesen zu lassen.

«Wir dürfen bei der Digitalisierung nicht den Anschluss verpassen»

Agnes Kerrison, 70 Jahre alt und Mitglied der Alterskommission in Wittenbach, begrüsst den neuen Chatbot. Sie hört aber auch von Berührungsängsten im Umgang damit.  

«Ich verwende meinen Computer und mein Smartphone täglich», sagt Agnes Kerrison. Sie nutzt die digitalen Technologien, «aber nicht übermässig». Sie betrachtet sie als Werkzeuge und kann sich ein Leben ohne sie nicht mehr vorstellen. Sich über viele Dinge informieren zu können, findet sie faszinierend. Auch die Kommunikationsmöglichkeiten schätzt sie sehr. «Sie sind besonders wichtig, seit ich nicht mehr berufstätig bin», sagt die ehemalige Leiterin eines Alters- und Pflegeheims. Den Umgang mit den Geräten hat sie sich selber beigebracht. Sie findet sich gut zurecht, «auch wenn ich nicht überall sofort drauskomme».

Agnes Kerrison hat aktiv an der Entwicklung des Chatbots 42 in Wittenbach mitgewirkt und auch an den Design-Thinking-Workshops teilgenommen. Den Chatbot findet sie «prima, eine tolle Sache». Der Nutzen ist für sie offensichtlich, besonders weil sie beruflich im Altersbereich tätig war. «Es ist ein grosser Vorteil, dass die verschiedenen regionalen Unterstützungsangebote für das Leben im Alter nun auf einer Plattform zusammengefasst sind», stellt sie fest. Durch die digitale Suche seien die Angebote einfach zugänglich.

Hemmschwelle gesenkt

Ausserdem muss sich niemand «als hilfesuchende Person outen». Diesen Aspekt dürfe man nicht unterschätzen, betont Agnes Kerrison. Es falle vielen älteren Menschen schwer, zuzugeben, dass sie Unterstützung benötigen. Die Möglichkeit, sich zuhause am Tisch online umzusehen, senke die Hemmschwelle. Allerdings haben nicht alle älteren Menschen Zugang zum Internet und manchmal spürt man Zurückhaltung, so die Vertreterin der Alterskommission: «Einige würden lieber irgendwo anrufen, anstatt am Computer zu suchen.» Andere sagten, sie hätten den Chatbot nicht nötig. Agnes Kerrison glaubt, dass es noch etwas Zeit und Öffentlichkeitsarbeit braucht, bis die Plattform regelmässig genutzt wird. Eine Verankerung des Chatbots bei der Gemeinde könne Vertrauen schaffen.

Die Wittenbacherin hofft, «dass die investierte Arbeit weitergeführt wird». Für sie ist – auch mit Blick auf zukünftige technologiegewohnte Rentnerinnen und Rentner – klar: «Wir dürfen bei der Digitalisierung nicht den Anschluss verpassen.» Wenn jemand Unsicherheit äussert, schlägt sie jeweils vor, die Community beizuziehen. Also sich zum Beispiel den Chatbot von der Enkelin erklären zu lassen oder einen digital-affinen Bekannten zu bitten, ein Angebot herauszusuchen. Zu digitalem Training gelangen Lernwillige nicht zuletzt via Chatbot selbst. Wer das Thema «Unterstützung im Alltag» anklickt, erfährt, wo man sich bei Fragen zu Computern und Smartphones hinwenden kann.

Text: Susanne Wenger